Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass gewisse Reife- und Selbstreflexionsprozesse - vor allem die der eigenen Gefühlswelt - ansprechende Kunst produzieren kann, oder aber das Beschäftigen mit letzterer zu eben jenen Prozessen führt. Im besten Falle geht beides einher und lässt ein Album wie „Raceday“ entstehen, welches die Lehninerin Sina Emmerich mit ihrem Projekt „S-cape“ in diesen Tagen vorstellt. An eine Flucht, wie es der Bandname suggeriert, ist dabei aber überhaupt nicht zu denken, denn erstaunlich offen und direkt präsentiert sie ihre Gefühlswelt in erfrischend leidenschaftlichem Rock ‘n’ Roll-, Country- und Blues-Feeling. „Ich wollte eigentlich immer nur Gitarre spielen, konnte mich mit meiner Stimme nicht anfreunden und wollte deshalb nie singen…“ Dass sie es trotzdem tut, verdankt sie dem schwedischen Superstar Harpo, der auf einem von ihr organisierten Festival auftrat: „Er riet mir, meine Songs in einer Tonlage zu schreiben, die mir läge und sie so für mich funktionieren würden. It’s not the singer, it’s the song… Ihm persönlich war, als er sich bei einer Plattenfirma vorstellte, geraten worden, dass er seine Songs besser nicht selbst sänge. Also transponierte er sie einfach und letztendlich sind ‚Moviestar‘ und ‚Horoscope‘ Welthits geworden… Was er sagte, gab mir Selbstvertrauen. Zudem sind meine Texte auch einfach zu persönlich und auf mich bezogen, als dass sie jemand anderes singen könnte.“
Womit die sympathische Grundschullehrerin für Englisch, Deutsch, Musik und Sport, die das Gitarrespielen bei Ostrock-Legende Gisbert „Pitti“ Piakowski (Klosterbrüder, City, NO 55 Renft) erlernte und deren Stil zuweilen an Chuck Berry erinnert, die Authentizität ihrer Stücke beschreibt. Geht es in den Songs auf „Raceday“ um Anzeichen einer Midlife-Crisis während eines einsamen Abendessens mit Inspector Barnaby in der Glotze („Feel too young - to be so old“) oder darum, auf eine gesunde Weise von einem geliebten Wesen Abschied zu nehmen („Just another day“), folgen dann aber eben auch kleine Glücksmomente in einer manchmal so anmutenden Tristesse („Lucky by myself“). „Das ist mein Lifestyle. Ich lebe hier in meinem Häuschen am See, zurückgezogen mit zwei Hunden, zwei Katzen und einem Pferd. Dann sitze ich auf der Terasse mit meiner Gitarre und schreibe Songs. Manchmal sind es Scheißthemen, die mich ärgern, aber manchmal ist es dann auch so, dass ich sage: so ist es eigentlich super und ich bin glücklich mit den kleinen Dingen, die ich hier habe.“
Die Melancholie besitzt zumindest das textliche Übergewicht. Die Themen von Schmerz, geopferter Liebe, fehlender zwischenmenschlicher Kommunikation bis hin zu Feigheit und (Lebens-)Lüge lösen jedoch in der Verbindung mit lebhafter, tanzbarer Musik in den Menschen, die zu ihren Konzerten kommen oder das Album bereits besitzen, alles andere als Beklemmungen aus: „Die Leute sagen mir, dass sie das Album meistens gleich zweimal hören, weil: das mache so gute Laune. Das wundert mich. Die Texte sind ja meist melancholisch. Ich bin eher der traurige Mensch, als so ein Fröhlich-Klops und doch sagen mir die Leute, dass mein Album positiv wirke…“ „Victim of love“ zum Beispiel könnte trotz des bitteren Themas, immer irgendwie an die falschen Männer zu geraten, ein Sommer-Hit werden. Der Song tanzt sich im fluffigen Reggae-Rhythmus, stilvoll veredelt durch die Trompete von Keimzeit-Bläser Sebastian Piskorz - und wird so zum weiteren Lied der Gegensätze, die jedoch in der stilgebenen Rastafari-Kultur nicht unüblich sind. Auch in ihr liegen Elend, entspannte Fröhlichkeit und Rebellion eng beieinander.
Eine Portion Wut dagegen steckt im Song „Fuck your pillow“: „Mir ist es ja oft passiert, dass ich auf eine Art und Weise abgewiesen wurde, die nicht gut ist. Ignoranz, sich ausschweigen, einen Bogen um dich herum machen… Die Leute reden einfach nicht, weil sie Angst haben, dir etwas Negatives zu sagen… Ich könnte so einen Song eigentlich schon wieder schreiben…“ Ein durchaus positiver Touch findet sich dann wieder im Titelsong „Raceday“: Ich war öfter auf der Rennbahn in Hoppegarten und alles, was ich gehört und gesehen habe, packte ich in diesen Song. Die meisten setzen auf die Favoriten, aber manchmal gewinnen eben auch die Außenseiter. Das kannst du auch auf das Leben übertragen. Oft werden die angehimmelt, die etwas bedeuten, aber man kann auch als Außenseiter ganz tolle Sachen machen.“
Vielleicht sind es gerade diese Gegensätze zwischen Musik und Worten, die so wirksam und identifikationsstiftend sind und welche die Gewissheit erzeugen, dass das eine ohne das andere in einem ausgewogenen Leben nicht existiert. Als Glücksfall für die Produktion des von leichtfüßigen Melodien geprägten Albums erwies es sich, dass Thommy Krawallo sein Studio gleich im Dorf nebenan in der ländlichen Potsdamer Mittelmark eröffnet hatte und nicht nur den Tonmeister-Job erledigte, sondern sich gleich auch als Produzent anbot und S-cape schließlich auf sein Label nahm: „Mir gefällt Sinas Ehrgeiz, ihre Ehrlichkeit und ihr Herzblut, mit dem sie dabei ist“, äußert sich der Multininstrumentalist und Produzent von Liedermacher-Legende Hans Eckart Wenzel und Felix Meyer. Durch eine sparsame, klare Instrumentierung mit akustischen und elektrischen Gitarren kreierte er für das Album einen homogenen Sound.
Sina selbst, die ihre Leidenschaft zum Rock ’n’ Roll schon in ihrer Kindheit aufgesogen und seit dem Alter von 16 Jahren in Punk- und Rockbands als Gitarristin und Songschreiberin agiert hat, sieht in der Zusammenarbeit mit Krawallo eine mehr als glückliche Bereicherung: „Thommy kam zu Konzerten und zum Videodreh vorbei, befasste sich mit mir und hat es schließlich geschafft, stilistisch und von der Instrumentierung her einen roten Faden ins Album reinzubekommen. Es war schon seltsam, dass manche Stücke, die ich eingeübt hatte, plötzlich anders sein sollten. Aber sie haben nun noch mehr Charme…“ Klare Ansagen gestandener Leute schrecken sie also nicht ab, sondern sie sieht sie als Chance: „Ich habe während der Produktion viel über Musik gelernt. Ich brauchte seine direkten Rückmeldungen und so holte er das Beste aus uns heraus.“ Als festes Mitglied gehört zum seit zehn Jahren bestehenden S-cape - Projekt auch Musiker Ralph Schröter (Schlagzeug, Perkussion, Xylophon), der auf „Raceday“ vor allem durch seine Background-Gesänge und mit einer Songkomposition auffällt.
Die Coverversion “Burning Love“ und ein Rock ’n’ Roll - Meldey, in denen Helden wie Elvis Presley, Carl Perkins und Chuck Berry gehuldigt wird, fügen sich homogen in die Produktion ein: „Elvis nachzusingen ist ja immer sehr waghalsig, aber ich denke, dass ich ihn auf meine eigene Art cool singe. Der ist groovy, lustig und tanzbar… Warum aber hat es aber seit der Veröffentlichung des ersten Albums „imagination“, (welches noch im hannoveranischen Madagaskar-Studio des damaligen Heinz Rudolf Kunze - Produzenten Heiner Lürig von dessen Sohn Marius aufgenommen worden ist), bis zur Veröffentlichung von „Raceday“ die lange Zeit von 9 Jahre gedauert? „Wenn ich nichts zu sagen oder zu verarbeiten habe, schreibe ich eben nichts. Ich muss alles erst erlebt haben, um einen Song daraus zu machen.“
Leidenschaftliche Musik, tiefes Gefühl und Authentizität gehören in allen Gernres zusammen, um fesselnde Kunst zu entwickeln. Und manchmal gewinnen eben auch die Außenseiter…
Titel
1. Feel too young (to be so old)
2. Lucky by myself
3. Just another day
4. Hurt
5. Tell me
6. Fuck your pillow
7. Bla Bla Bla
8. Burning love
9. Victim of love
10. Raceday
11. Rock & Roll Medley
CD Digipack mit 12seitigem Booklet